Im Kielwasser des Protests amerikanischer Autor_innen haben nun auch deutsche einen offenen Brief an Amazon geschrieben. Der Online-Händler hat in letzter Zeit Schlagzeilen gemacht, da Verlagshäuser in den USA (Hachette) und in Deutschland (Bonnier-Verlagsgruppe) sich weigern, Amazon höhere Rabatte für E-Books zu zahlen. Seitdem liefert Amazon Bücher dieser Verlage nicht mehr sofort aus und empfiehlt sie auch nicht mehr. Die daraufhin entbrannte Diskussion dies- und jenseits des Atlantiks, die immer wieder auch in Boykottaufrufen gipfelt, hat deshalb so viel Fahrt aufgenommen, weil es sich nicht um irgendeinen Buchhändler oder gar Libreka handelt (Libreka? Was ist das denn? Ja, genau.), sondern um den Weltkonzern Amazon. Und weil es sich nicht um irgendwelche Autor_innen handelt, die von Amazons Taktiken betroffen sind, sondern Zugpferde wie J. K. Rowling, James Patterson oder Nele Neuhaus. Wäre beides nicht gegeben, würde vermutlich (wie bisher) kein Hahn danach krähen.

Im deutschen offenen Brief steht:
„Wir Autorinnen und Autoren sind der Meinung, dass kein Buchverkäufer den Verkauf von Büchern behindern oder gar Kunden vom Kauf von Büchern abhalten sollte.“
Wer will ihnen da widersprechen, zumal es natürlich auch nicht im Sinne eines Wirtschaftsunternehmens ist, Verkäufliches nicht zu verkaufen. Doch hier ist schon der Punkt gekommen, an dem die Einseitigkeit des aktuellen Amazon-Bashings ihre Legitimation verliert. Denn genau das, was dem amerikanischen Konzern vorgeworfen wird, macht der stationäre Buchhandel auch.
Verlage und Buchhandel sind erstaunlich still
Bei manchen Handelsketten werden einige Verlagsvertreter_innen gar nicht erst empfangen, exponierte Verkaufsauslagen und „Bestseller“-Plätze werden nicht immer nach Qualität und tatsächlichen Bestverkäufen vergeben, sondern können (laut FAZ vor vier Jahren) für viel Geld gekauft werden. Bei so mancher unabhängiger Buchhandlung werden bestimmte Bücher nur deshalb nicht ins Sortiment genommen oder an exponierter Stelle ausgelegt, weil die angebotenen Rabatte nicht hoch genug sind. So läuft das Geschäft. Und erinnern Sie sich an einen offenen Brief oder Boykottaufrufe zum Nachteil des stationären Buchhandels? Ich nicht.
Was also ist jetzt anders? Der PEN behauptet, der Brief spräche sie sich „nicht in erster Linie gegen Amazon aus“, auch wenn er es dennoch tut. Warum geht es in dieser Diskussion dann nicht gleich um den gesamten Buchhandel? Warum wird allein Amazon zum Sündenbock gemacht, das sicher in den vergangenen Jahren manches falsch, aber auch so vieles richtig gemacht hat? Liegt es daran, dass es das führende Online-Portal ist, das fast die gesamte Verlags- und Buchhandelsbranche überhaupt erst aufgeweckt und ihr gezeigt hat, wie Internet im 21. Jahrhundert geht und die verschlafene Szene seitdem ständig vor sich her treibt? Ein Portal, gegen das eine Plattform wie Libreka nur ein trauriger Versuch ist, so zu tun, als hätte man das Internet verstanden? Amazons vermeintliche „Marktmacht“ von gerade einmal 12 % des gesamten Buchverkaufs kann es jedenfalls nicht sein.

Die Verlage selbst sind ja erstaunlich still bei der ganzen Aufregung, der Buchhandel auch, von ein paar harm- und hilflosen Wortmeldungen einzelner abgesehen. Stattdessen ziehen ausgerechnet diejenigen lautstark ins Feld, die am wenigsten bei der ganzen Sache zu verlieren haben: die Autor_innen. Sie verdienen von allen Beteiligten an ihren eigenen Werken am wenigsten und beißen nun, wie es scheint, nach der erstbesten dicken Wade, die an ihnen vorbeiläuft. Womit sie, laut PEN (s. o.), natürlich keineswegs nur diese eine Wade meinen.
Was ich an der ganzen Sache nicht verstehe, ist dies: Der Buchhandel ist schon seit sehr vielen Jahren nicht mehr das, was so viele plötzlich vermissen: der kleine Buchladen um die Ecke mit unfassbar belesenen und allwissenden Buchhändler_innen. In sehr vielen Fällen ist der Buchhandel einfach nur ein begehbares Warenlager mit Kassierpersonal. Dennoch erhält er teilweise das Zehnfache dessen, das die Urheber_innen dieser Ware erhalten.
Nun ist es in der Geschichte des Handels schon oft so gewesen, dass die Herstellenden mit der geringsten Vergütung vorlieb nehmen müssen. Doch haben sie, wenn ihre Händler_innen den Zeitenwechsel verschlafen oder ihre Arbeit nicht gut gemacht haben, sich schlicht und ergreifend neue, erfolgreichere gesucht.
Genau das Gegenteil scheint nun jedoch das Ansinnen dieses Briefes zu sein. Der zukunftsträchtigste Händler mit den innovativsten Ideen wird angeprangert, während der verschlafene stationäre Buchhandel mit einem Heiligenschein dazustehen scheint, obwohl er oft gleiche oder ähnliche Praktiken an den Tag legt.
Nur die Autor_innen können nicht von ihren Büchern leben
Die Autor_innen schreiben ganz richtig in ihrem offenen Brief:
„Wir haben Amazon Millionen in die Kassen gewirtschaftet“,
übersehen dabei jedoch, dass sie auch dem stationären Buchhandel die Existenz sichern (2013 z. B., laut Börsenverein, mit einem Umsatz von 9.536 Mio. €). Trotzdem sind sie noch immer diejenigen, die gerade einmal 5 – 20 % von diesen Millionen abbekommen, obwohl sie die meiste Arbeit und das meiste Wissen in diese Werke gesteckt haben.
Der Großteil der Autor_innen erhält bei Vertragsabschluss, wenn überhaupt, ein winziges Garantiehonorar von ihrem Verlag, das bei sehr vielen, auch sehr renommierten Verlagen, nicht mehr als 1.000 Euro beträgt. 1.000 Euro für viele Monate Arbeit. Und die Verlage investieren immer öfter anschließend wenig bis gar kein Geld, um dieses Buch vernünftig zu bewerben, weshalb es kaum in den Buchläden steht und sich deshalb vielleicht 300-mal oder, wenn es richtig gut läuft, auch satte 2.000- bis 5.000-mal verkauft. Selbst wenn vertraglich Tantiemen für die Autor_innen festgelegt sind, erreichen viele niemals die dafür festgelegte Mindestverkaufszahl, da ihre Bücher ja nicht wirklich beworben und im Kulturteil der meisten Zeitungen häufig nur die „Bestseller“ besprochen werden. Und deshalb könnten die meisten Urheber_innen von ihrer Arbeit nach wie vor nicht leben.
Verlage und Buchhandel hingegen schon.
Insofern ist es nur allzu verständlich, dass die Autor_innen den hierzulande größten Online-Buchhändler nun anflehen, ihre Bücher wieder normal auszuliefern und anzupreisen, damit sie wenigstens den Hauch einer Chance haben, Tantiemen zu bekommen. Offensichtlich ahnen sie auch, dass der Börsenverein noch immer kein zukunftsfähiges Konzept gefunden hat, mit dem er Amazon die Stirn bieten könnte. Und dass ihre Verlage sich immer noch nicht in der Lage sehen, vernünftige Konditionen für diejenigen herauszuschlagen, von denen sie alle leben.
Ein Amazon-Boykott, wie viele ihn gerade fordern, ist da jedoch kontraproduktiv. Denn er würde den Autor_innen nur noch mehr Wasser abgraben. Schließlich gibt es nicht wenige, die ihre Verkäufe hauptsächlich über Amazon generieren. Auch zahlreichen Selfpublisher_innen wie Marah Woolf (hier ein Interview mit ihr) oder Matthias Matting (hier im Interview) würde damit erheblich geschadet. Wäre das fair?
Natürlich nicht. Fair wäre es, wenn der stationäre und der Online-Buchhandel sowie die Verlage diejenigen, von deren Werken sie alle leben, endlich nicht mehr ans unterste Ende ihrer Vergütungskette stellen würden. Doch dazu müsste überhaupt erst einmal eine Art Unterbezahlungsbewusstsein bei den Autor_innen entstehen. Dazu müssten sie überhaupt erst einmal erkennen, dass sie immer noch wie die „schreibende Hausfrau“ aus den 1950er Jahren für ein Hobby oder ihre „Selbstverwirklichung“ entlohnt werden, nicht für qualifizierte Arbeit.
Der Umgang mit diesen Werten hat eine ethische Dimension
Stattdessen outet sich PEN-Präsident Josef Haslinger als Ewiggestriger mit seinem Hinweis, dass, wer bei Amazon publiziere, „in einem relativ amateurhaften Ambiente gelandet“ sei, da diese Bücher ja nicht im seriösen Feuilleton besprochen würden. Er scheint lange nicht mehr im „Neuland“ unterwegs gewesen zu sein. Und offensichtlich hat er auch noch nicht mitbekommen, dass es so gut wie kein seriöses Feuilleton mehr gibt, dass aber dennoch 90.000 Bücher im Jahr verlegt werden, die trotzdem irgendwer zu kaufen und zu lesen scheint.
Wenn nun aber selbst Kulturstaatsministerin Monika Grütters in einer Pressemitteilung sagt:
„Marktmacht und die Herrschaft über zentrale Vertriebswege dürfen nicht dazu führen, dass unsere kulturelle Vielfalt gefährdet wird“,
und damit Amazon für die Gefährdung dieser Vielfalt verantwortlich macht, dann ist auch das ein Zeichen dafür, dass der stationäre Buchhandel seinen Heiligenschein und seine bis zu 50 Prozent wohl ohne große Anstrengungen und Zukunftsvisionen wird behalten können. Und dass die unanständig niedrigen Honorare für die Autor_innen, deren harte Arbeit ja die Ursache für diese schöne kulturelle Vielfalt sind, weiterhin auf diesem inakzeptablen Niveau bleiben.
Grütters sagt auch:
„Literatur, Bücher, Verlage – sie sind ein Fundament unseres kulturellen Lebens. Das kann man nicht rein marktwirtschaftlichen Prinzipien unterwerfen, sondern ein angemessener Umgang mit diesen Werten hat auch eine ethische Dimension. Das gilt für alle Akteure“.
Aha. Dass aber das Fundament unseres kulturellen Lebens bislang einzig daraus besteht, dass Verlage und Buchhandel marktwirtschaftlich arbeiten, Autor_innen aber nur ethisch denken, ist anscheinend auch ihr nicht so ganz klar. Denn das ist doch die große Krux in der Kultur: die Urheber_innen sollen möglichst alles ehrenamtlich und in ihrer Freizeit machen, während alle anderen Gewerke davon leben können dürfen. Ein Unverhältnis, das endlich aussterben sollte.
Im Grunde müssen Verlage und Buchhandel sogar dankbar sein, dass so viele Autor_innen das Internet in ähnlicher Weise für Neuland, eine vorübergehende Erscheinung oder den Untergang des Abendlandes halten, und dass sie sich deshalb noch immer mit den so oft völlig ungenügenden Leistungen der Verlage und den Honoraren zufrieden geben. Denn es ist ja nicht so, als gäbe es nicht zahlreiche hervorragende (von den Verlagen weggekürzte) Lektor_innen, Korrektor_innen, Layouter_innen und sonstige Dienstleister_innen auf dem freien Markt – nur ist das bei vielen Autor_innen noch nicht angekommen, sie haben keine Lust darauf, das alles selbst zu organisieren oder sie träumen eben doch noch ganz romantisch davon, irgendwann einmal bei Hanser, Fischer, Rowohlt & Co. unter Vertrag und dann ganz groß rauszukommen.
Taugt also Amazon nun als Sündenbock? Natürlich nicht. Sicher, man muss irgendwo anfangen – aber warum dann nicht gleich richtig, warum nur so ein vorübergehend opportunes Klein-Klein, warum nur diese eine dicke Wade? Eins ist jedenfalls sicher: wenn die Verlage und der stationäre Buchhandel diejenigen, von deren Werken sie alle leben, tatsächlich so respektierten wie sie es behaupten, würden sie sich sofort geschlossen hinter sie stellen, sie ab sofort anständig vergüten und bewerben. Und endlich vernünftige Zukunftskonzepte entwickeln, anstatt sich mit ihrer fortdauernden Ahnungslosigkeit in Sachen Internet und E-Book weiter zu blamieren.
Ja, der Buchmarkt würde sich sehr verändern. Aber die Welt dreht sich ja auch immer weiter.
(Zuerst veröffentlicht am 27.08.2014 auf „Schreiben als Beruf“.)