Oder anders gefragt: Was hilft’s dem Land, wenn sein Botschafter ein Superstar ist? Im Fahrtwind des zum Superstar hochstilisierten Dalai Lama, dessen Auftritte – wie der aktuelle in Hamburg – oft den Showcharakter großer Popevents haben, wurde all die Jahre häufig eins vergessen: dass er bis zu seinem politischen Rücktritt nicht nur als Botschafter des buddhistischen Mittelwegs zu Besuch war, sondern in erster Linie als ein Landesherr ohne Land, der seit Jahrzehnten und bis heute verzweifelt um das Überleben seines Volkes und dessen uralter Kultur kämpft. Die einzigen Mittel, die er dafür zur Verfügung hat, sind seine buddhistische Gelassenheit, sein Humor und klare Worte. Damit kommt er an, dafür liebt ihn die westliche Welt und füllt ganze Fußballstadien, um ihm andächtig lauschen zu können, wenn er sich in gewohnt fröhlicher und eindringlicher Weise präsentiert. Für Preise bis zu 150 Euro pro Tageskarte gehen sie anschließend inspiriert, innerlich gereinigt und beschwingt nach Hause. Tibet? Ja, traurig. Aber was soll man machen, wenn schon der große Dalai Lama nichts ausrichten konnte? Man kennt ihn: das zumindest hat er geschafft. Westliche Regierungschef_innen empfangen ihn, wenn auch nur in Hinter- und Nebenzimmern, und ziehen sich damit den Zorn der chinesischen Regierung zu, der jedoch erfahrungsgemäß nie lange andauert. Zu sehr braucht China die westlichen Märkte, um seine Massenwaren abzusetzen.
Der politische Rücktritt des Dalai Lama war folgenschwer
Doch was nützt all das den Menschen in Tibet? Man weiß kaum etwas über das, was dort geschieht, über den Alltag der Menschen und über ihr Leid. Zum einen liegt das an der teils rigorosen Abschottung des Landes durch die chinesischen Machthaber. Zum anderen liegt es daran, dass wir uns nur allzu leicht mit den üblichen Klischees zufrieden geben. Denn was verbinden wir mit diesem fernen Land? Zuerst den Dalai Lama, den Buddhismus, die Mönche. Und dann? Berglandschaften. Klettertouren. Und zuletzt vielleicht noch Heinrich Harrer und Brad Pitt. Darüber hinaus ist es in der Medienlandschaft nicht leicht, etwas über Tibet zu erfahren. Seit sich der Dalai Lama 2011 von der tibetischen Exilregierung im indischen Dharamsala von seinen politischen Ämtern entbinden ließ, ist er faktisch nicht mehr das Staatsoberhaupt der (Exil-) Tibeter_innen. Er ist und bleibt für sie jedoch das spirituelle Oberhaupt. Nur war sein politischer Rücktritt – der möglicherweise auch in der Hoffnung auf ein entspannteres Verhältnis zu Chinas Regierenden geschah –ein besonders folgenschwerer. Denn Tibet und die Lage in diesem Land sind seither immer stärker aus dem Bewusstsein der Menschen verschwunden. Eine Ahnung der verzweifelten Situation bekommt nur noch, wer die Meldungen der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) verfolgt, die von Selbstverbrennungen verzweifelter Menschen berichten, von willkürlichen Festnahmen, von Drangsalierung und Verfolgung, von Folter und Tod, vom Verschwindenlassen zahlloser Tibeter_innen durch die chinesische Regierung und vom qualvollen Sterben einer uralten Kultur. Noch immer ist der Dalai Lama im Westen als Tibeter bekannt, doch haben seine spirituellen Popshows ihren symbolischen Charakter verloren – der alte Herr verschwindet wie sein Land und seine Kultur langsam, aber sicher aus dem Licht der Öffentlichkeit. Zurück bleibt einzig der (zumindest vorübergehend) beseelende Charakter seiner Lehren. Was also hat sein politischer Kampf gebracht? Anders als das Schicksal der Uiguren, die auf ganz ähnliche Weise unter der eisernen Knute der chinesischen Regierung zu leiden haben, wurde das Schicksal Tibets weltweit bekannt, Prominente traten öffentlichkeitswirksam zum Buddhismus über, und zahlreiche Hilfsorganisationen wurden gegründet, um den Menschen in Tibet ein wenig Linderung und Hoffnung zu bringen. Immer wieder haben westliche Autor_innen und Filmemacher_innen die lebensgefährliche Flucht tibetischer Kinder durch den Himalaya dokumentiert, deren verzweifelte Eltern sie mit gebrochenem Herzen ins Eis schicken, um wenigstens den Kindern eine hoffentlich menschenwürdige Zukunft innerhalb ihrer Kultur zu ermöglichen.
Die chinesische Regierung spielt auf Zeit
Und doch hat sich an der Lage in Tibet selbst nicht viel zum besseren geändert. Die chinesische Regierung spielt auf Zeit, denn sie weiß, dass eine junge Generation, die von Smartphones, billigen Turnschuhen und knallfarbigem Fusel verwöhnt ist, eher bereit sein wird, sich politisch und kulturell zu arrangieren, als die ältere Generation, deren einziges Vorbild und größte Hoffnung der Dalai Lama ist. Die noch nicht korrumpierte Jugend ist hingegen immer weniger geneigt, dem Credo der Gewaltlosigkeit des Friedensnobelpreisträgers zu folgen. Erst recht nicht, da nach wie vor politische Gegner_innen, Querdenker_innen und solche, die es wagen, in der Öffentlichkeit über Demokratie zu sprechen, gnadenlos belästigt, tyrannisiert, weggesperrt und gefoltert werden.
Was bleibt nun, wenn der Dalai Lama und sein Tross nach diesem Auftritt zum nächsten Mega-Event reisen? Es bleibt die Hoffnung darauf, dass sein Konzept der Liebe und Gewaltlosigkeit weiter Fuß fassen kann, dass das Schicksal und das Leid Tibets nicht nur nicht vergessen, sondern insbesondere von politischer Seite immer wieder aufs Tapet geholt werden. Dass China endlich dazu gebracht wird, in Tibet, in der Uigur-Region und im eigenen Land die Menschenrechte nicht mehr nur auf dem Papier anzuerkennen und die tibetische Kultur zu erhalten und zu fördern, anstatt sie auszulöschen. Seit 55 Jahren muss der Dalai Lama nun schon im Exil leben. Fraglich bleibt, ob der heute 79-Jährige seine Heimat je wiedersehen darf, obwohl er doch schon längst fast alle nur denkbaren Zugeständnisse gemacht hat. Er selbst hat die Hoffnung nicht aufgegeben, doch, realistisch gesehen, wird sich die chinesische Regierung hüten, ihn wieder nach Tibet zu lassen – zu groß ist die Angst vor dem Verlust der militärischen Pufferzone, der Bodenschätze und der billigen Arbeitskräfte. Es wäre schließlich nicht auszudenken, zu was das seit so vielen Jahrzehnten brutal unterdrückte und trotzdem immer noch so stur widerständige tibetische Volk fähig wäre, käme sein Oberhaupt endlich wieder nach Hause.
Zum Nachlesen:
Interview des Dalai Lama mit Franz Alt (2014)
Bericht der IGFM zu der Lage in Tibet
Lesetipps der Tibet-Kennerin Alice Grünfelder (pdf)
“Butterkerzen und Schlachtfelder” – Porträt der Tibet-Kennerin Alice Grünfelder
“Der alte Mann und das Reich der Mitte” – Porträt des Menschenrechtlers Peter Müller
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